«ES WIRD EIN SCHWIERIGES JAHR, ABER KEINE KATASTROPHE»

Oliver Müller, Brancheninsider und Inhaber von LuxeConsult, zur Lage der Schweizer Uhrennation.

Herr Müller, die Exporte sind gemäss Statistik im März 2024 um 16,8 Prozent zurückgegangen. Haben Sie es so massiv erwartet?

Ehrlich gesagt nein, ich hätte nicht erwartet, dass es so schnell so heftig runtergeht. Aber es könnte gut sein, dass wir noch schlechtere Zahlen sehen, bevor sich die Situation wieder einigermassen stabilisiert. 

Was heisst stabilisiert?

Ich bleibe bei meiner Prognose von minus fünf Prozent fürs laufende Jahr. Bei dem Minus sollte man einfach nicht vergessen, dass wir mit 2023 vergleichen, einem absoluten Rekordjahr für die Branche. 

Sie meinen, es ist Jammern auf hohem Niveau? 

Das trifft es. Mit einem Minus von zehn Prozent wären wir auf dem Niveau von 2022, dem Rekordjahr vor dem Rekordjahr 2023. Ich möchte der Branche an dieser Stelle auch einmal noch ein Kränzchen winden: Sie hat die strukturelle Herausforderung gemeistert, die Millennials und die Generation Z für sich zu gewinnen. Diese jungen Leute kaufen wieder konventionelle Uhren. 

Was braucht die Uhrenindustrie nun, damit es mit ihr wieder raufgeht? 

Alle makroökomischen Indikatoren stehen auf Rot. Die heutigen Herausforderungen sind mehr konjunktureller Natur, und damit müssen wir leben. Es wird ein schwieriges Jahr, aber keine Katastrophe. Für eine Trendwende müssen sich erst einmal die geo- und wirtschaftspolitischen Spannungen lösen und keine neuen entstehen. Es geht rauf, sobald die Leute wieder mit Zuversicht in die Zukunft schauen. 

Als Brancheninsider müssen Sie wissen, wie es den Akteuren geht. Erzählen Sie! 

Dazu kann ich keine pauschale Aussage machen. Grosse Marken im Hochpreissegment wie Rolex, Patek Philippe und Audemars Piguet werden das Jahr besser meistern als kleinere Marken im Mittelpreissegment. Die Big Three sind im Gesamtkontext zudem wichtig, weil sie Loyalität gegenüber ihren langjährigen Produktionspartnern sehr hoch einstufen und für Stabilität sorgen, auch in unsicheren Zeiten. Sie geben den Druck des Markts nicht tel quel an ihre Zulieferer weiter, wie bei anderen Uhrenmarken üblich. Das führt derzeit dazu, dass die Situation für gewisse Zulieferer bereits brenzlig ist. Dazu muss man wissen, dass sich für sie der Rückgang im Exportvolumen um 10 Prozent, den wir seit Anfang Jahr verzeichnen, in einem Minus von 20 bis 40 Prozent in den Auftragsbüchern niederschlägt. 

Wie kommt das?

Das Phänomen hinter den extremen Schwankungen am Ende der Wertschöpfungskette heisst «Bullwhip»-Effekt – und er funktioniert in beide Richtungen: Geht es rauf, wird überproportional viel bestellt im Glauben, dass die Bäume bis in den Himmel wachsen. Geht es runter, werden diese Bestellungen dann hastig sistiert. In beiden Fällen wird – leider – überreagiert. Mit entsprechenden Folgen für den Cashflow bei den Zulieferbetrieben: Der kann ruck, zuck von sehr gut auf existenzbedrohend drehen.  

Betrachtet man den Abwärtstrend nach Uhrenkategorien, erweisen sich einmal mehr die teuren ab 3000 Franken als resilienter als die günstigen …

… Achtung, das muss man differenziert analysieren. Die Exportstatistiken basieren auf Verkäufen ab Produktionsstandort und nicht auf Endverkaufspreisen. Wenn man heute die Situation im Detail anschaut, sind es sogar nur noch Uhren mit einem Endverkaufspreis von mehr als 40’000 Franken, die seit Anfang Jahr wachsen. Anders gesagt: Nur Luxusmarken wie Patek Philippe, Audemars Piguet oder Richard Mille legen noch zu. Sie produzieren nur rund ein Prozent des gesamten Volumens der Schweizer Uhrenindustrie, spielen aber 30 Prozent des Exportumsatzes ein. 

Uhren der obersten Liga reissen die Statistik heraus, geben aber ein falsches Bild der Branche ab?  

Was heisst falsch? Wir sehen seit bald 24 Jahren eine Industrie, die sich in eine Hochpreisnische hinein entwickelt. Wir haben seit dem Jahr 2000 fast die Hälfte der Volumen verloren, den Wert der exportierten Uhren aber um das Zweieinhalbfache erhöht.

Jede Krise birgt Chancen. Wo sehen Sie diese?

Es gibt viel zu viele Marken. Der Markt wird das nun regeln. 

Was meinen Sie konkret?

Ich rede nicht von kleinen, feinen Nischenmarken, die mit ihren innovativen Kreationen Uhrensammler zum Träumen bringen, sondern von den übermütigen Männern und Frauen, die denken, sie könnten mit dem Budget von 300’000 Franken ein Produkt entwickeln und sich den Traum einer eigenen Uhrenmarke mal so schnell erfüllen. Viele begreifen nicht, dass das Produkt nur ein kleiner Teil eines Markenterritoriums ist.

Zum Schluss: Ihr Fazit zum Highlight im Monat April, zur Watches and Wonders?

Ich hatte erwartet, dass alles ein bisschen leiser und diskreter daherkommt, mit weniger spektakulären Produktneuheiten. Die CEOs waren viel bescheidener als üblich in ihren Ankündigungen, ich spürte bei der Eröffnung eine grosse Anspannung. Für gewisse Marken sind solche Messen ja überlebenswichtig. Am Ende waren viele sehr zufrieden, gar erleichtert, weil alles trotzdem ziemlich gut ablief. Allerdings: Man darf gewissen Aussagen nicht zu viel Kredit geben. Wenn jemand von einer «sehr guten Messe» spricht oder sagt: «Bei uns war es okay im Gegensatz zu XY», ist Vorsicht geboten. Solche Statements sind Teil des Spiels.

2024-04-25T09:27:45Z dg43tfdfdgfd