TROTZ STROMEXPORT IM WINTER: ES BRAUCHT EIN ABKOMMEN MIT DER EU

Im letzten Winter war von einer Mangellage keine Spur. Dank positiver Faktoren konnte die Schweiz sogar Strom exportieren. Eine sichere Versorgung aber garantiert dies nicht.

Vieles ist im Fluss, auch und gerade beim Strom. Keine zwei Jahre ist es her, seit Werner Luginbühl ein düsteres Szenario schilderte. Im Interview mit der «NZZ am Sonntag» riet der Präsident der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom) der Bevölkerung, sich mit Kerzen und Brennholz – falls ein entsprechender Ofen vorhanden war – einzudecken.

Im schlimmsten Fall müsse man mit stundenweisen Stromabschaltungen rechnen, warnte Luginbühl. Das Gespenst einer Strommangellage im Winter ging um, der Bund forderte mit einer Kampagne zum Sparen auf. Denn Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine liess die russischen Gasexporte nach Europa einbrechen und die Preise durch die Decke gehen.

Damit nicht genug: Ausgerechnet in dieser kritischen Situation waren einige schadhafte französische Atomkraftwerke vom Netz genommen worden. Es war so etwas wie der perfekte Elektronensturm, doch der schlimmste Fall trat nicht ein, weil der Winter 2022/23 mild war und die Europäer im Eiltempo neue Gaslieferanten gefunden hatten.

Mildester Winter seit Messbeginn

Ein Jahr danach präsentiert sich die Versorgungslage noch besser. Der Winter 2023/24 war der mildeste seit Messbeginn. Die nasse Witterung sorgte dafür, dass die Stauseen voll waren und die Flusskraftwerke auf Hochtouren liefen. Das führte dazu, dass die Schweiz, die im Winter in der Regel Strom beziehen muss, zum Nettoexporteur wurde.

Weil auch die Kernkraftwerke ständig verfügbar waren, konnte die Schweiz zwei Terawattstunden Strom exportieren, hiess es am Dienstag an der Medienkonferenz der ElCom zur Stromversorgungssicherheit. Sie konnte unter anderem im Januar dem benachbarten Baden-Württemberg helfen, einen Netzengpass auszugleichen.

Weniger fossile Stromproduktion

Verantwortlich waren die Rückstände beim Netzausbau von Nord- nach Süddeutschland, und nicht etwa fehlender Strom. Davon gab es auch in den Nachbarländern genug, wegen des geringen Wirtschaftswachstums, den wieder verfügbaren französischen AKWs, prall gefüllten Gasspeichern und dem anhaltenden Ausbau von Windkraft und Photovoltaik.

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Ein erfreulicher Nebeneffekt war die geringere Produktion aus fossilen Kraftwerken in der EU im letzten Winterhalbjahr. Insgesamt habe sich die Situation «sehr entspannt», sagte ElCom-Mitglied Jürg Rauchenstein. Auch die Gas- und Strompreise haben sich zumindest im Grosshandel normalisiert. Die Gasspeicher sind immer noch zu rund 60 Prozent gefüllt.

Mehr Importe als Exporte

Es ist ein Grund, warum die ElCom die Ausgangslage für den Winter 2024/25 «grundsätzlich positiv» beurteilt. Auch die Verfügbarkeit der Kernkraftwerke in Frankreich dürfte sich weiter verbessern. Dem stehe die geplante Abschaltung deutscher Kohlekraftwerke gegenüber, die sich «tendenziell negativ auf die schweizerischen Importmöglichkeiten» auswirken werde.

Denn es bleiben verschiedene Unsicherheiten, vor allem die Witterung. Sollte es wieder einmal einen kalten und trockenen Winter geben, wäre die Schweiz gefordert. «In 18 der letzten 20 Jahre haben wir Strom importiert, im Durchschnitt vier bis fünf Terawattstunden», erklärte Werner Luginbühl. Die Exporte im letzten Winter waren demnach eine Anomalie.

Viele Unsicherheiten und Fragen

Für den ElCom-Präsidenten bleibt der vom Parlament beschlossene Solarexpress nötig, auch wenn das Ziel von zwei Terawattstunden aus alpinen Anlagen kaum erreichbar sei. Als «essenziell für die Versorgungssicherheit» bezeichnete Luginbühl das Stromgesetz, über das am 9. Juni abgestimmt wird, vor allem wegen des Ausbaus der Erneuerbaren.

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Video: watson/Aylin Erol, Michael Shepherd

Die vom Bund verordnete Wasserkraftreserve und die fossilen Reservekraftwerke wurden im letzten Winter dank der positiven Umstände hingegen nicht benötigt. Die ElCom hält eine Reservekapazität von 700 bis 1400 Megawatt bis 2030/35 dennoch für unentbehrlich, denn rund um die Stromversorgung gibt es laut Luginbühl viele Unsicherheiten und Fragen:

  • Hält die Dynamik beim Ausbau der Photovoltaik an, auch von hochalpinen Anlagen?
  • Gelingt bei der Windkraft ein echter Schritt nach vorn?
  • Welchen Einfluss hat der Mehrbedarf durch Wärmepumpen und Elektromobilität?
  • Kann die Laufzeit der Schweizer AKWs auf 60 Jahre verlängert werden?
  • Wie wirkt sich die Abschaltung deutscher Kohlekraftwerke auf die Importe aus?

«Kein Ersatz für Stromabkommen»

Die Importfrage bleibt eine Herausforderung. Werner Luginbühl zeigte sich vor den Medien «sehr zuversichtlich», dass ein technisches Abkommen mit der EU, das die Netzbetreiberin Swissgrid seit Jahren fordert, bald abgeschlossen werden kann: «Es ist wichtig für die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit», sagte der ElCom-Präsident.

Allerdings müsse ein solches Abkommen jährlich erneuert werden, was der EU ein weiteres Druckmittel verschaffen könnte. «Es ist kein Ersatz für ein Stromabkommen», betonte der frühere Berner BDP-Ständerat. Er erinnerte daran, dass nach dem Verhandlungsabbruch beim Rahmenabkommen die Zusammenarbeit mit der EU «sehr schwierig» geworden sei.

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Vom «Exporterfolg» im letzten Winter dürfe man sich nicht täuschen lassen, warnte auch Jürg Rauchenstein: «Die Abhängigkeit der Schweiz von der EU ist viel grösser als umgekehrt.» Er relativierte die Bedeutung als Stromdrehscheibe, denn für Italien oder Deutschland gebe es Ausweichmöglichkeiten: «Die Spiesse sind nicht gleich lang.»

Ausserdem sei die EU bereit, «eine Lose-lose-Situation bewusst in Kauf zu nehmen», sagte Rauchenstein mit Blick auf die Erfahrungen der letzten Jahre. Faktisch kann man solche Aussagen als Warnung vor einem Scheitern der laufenden Verhandlungen mit der EU interpretieren. Die Schweiz ist eben keine Insel, auch und gerade bei der Elektrizität.

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