WATSON-ANALYSE ZEIGT: IN DER SCHWEIZ HABEN NUR ZWEI PARTEIEN DAS «TIKTOK-GAME» VERSTANDEN

In Deutschland machen die Parteien jeden TikTok-Trend mit, um gegen die auf der Plattform erfolgreiche AfD anzukommen. Wie steht es um die Schweiz? Welche Partei hat hierzulande auf TikTok die Nase vorn? Unsere Analyse zeigt: Nur auf den ersten Blick ist es die SVP.

In Deutschland sind Medien und Politik seit Februar in Aufruhr. Der Grund ist diese Grafik:

Erstellt hat sie der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje im Auftrag des ZDF. Seine Analyse zeigte: Die AfD erreichte auf TikTok zwischen Januar 2022 und Dezember 2023 im Schnitt 430'000 Impressionen (Views) pro Post. Und damit mehr Menschen als alle anderen Parteien Deutschlands zusammen. Im speziellen junge Menschen.

Eine Ausgangslage, die viele besorgt. Zumal im Juni die Wahl des Europäischen Parlaments ansteht, an der in Deutschland erstmals Jugendliche ab 16 Jahren teilnehmen können. «Wir dürfen die sozialen Medien nicht der AfD überlassen», sagte Gesundheitsminister Karl Lauterbach im März in der ARD-Sendung «Hart, aber fair».

Gesagt, getan.

Inzwischen haben die deutschen Parteien kräftig TikTok-Content produziert. Vergessen sind die Sicherheitsbedenken des EU-Parlaments, das ein Jahr zuvor seinen Mitarbeitenden die Nutzung der chinesischen App verbot. Um auf dem Bildschirm potenzieller Wählerinnen und Wähler zu landen, machen sie jeden TikTok-Trend mit.

Wie steht es um die Schweiz? Antworten liefert die watson-Analyse mit Einschätzungen von Kommunikationswissenschaftler Christian Pipal. Er forscht an der Universität Zürich zu Parteien und Politikern auf TikTok.

SVP: Minimaler Aufwand, maximaler Ertrag

Die SP und die Grünen waren zwischen dem 1. Januar 2023 und dem 31. März 2024 fleissig. 145 Posts veröffentlichten sie auf ihren offiziellen, deutschsprachigen TikTok-Accounts. Doch während die SP im Schnitt 36'500 Impressionen (Views) pro Post erzielte, politisierten die Grünen mit durchschnittlich 900 Impressionen deutlich weniger erfolgreich auf TikTok. Auch die FDP hat im gleichen Zeitraum eifrig TikTok-Content produziert. Ihre 75 Posts kam im Schnitt auf je 2'400 Views.

Über diese Anstrengungen könnte eine Partei nur lachen: die SVP. Sie erreicht mit minimalem Aufwand maximalen Ertrag. Im analysierten Zeitraum generierte einer ihrer 44 Posts im Schnitt 44'000 Views. Damit befindet sich die SVP auf Platz eins der Schweizer Parteien, die auf TikTok am effektivsten politisieren.

Schaut man allerdings genauer hin, wird ersichtlich: Die SP erreichte in demselben Zeitraum potenziell drei Mal mehr Menschen als die SVP. Dies aufgrund der schieren Menge ihrer Posts, mit der sie insgesamt 5,3 Millionen Views erzielte. Die SVP holte mit all ihre Posts insgesamt «nur» 2 Millionen Views.

Die Mitte und die GLP befinden sich indes so oder so auf dem letzten Platz. Denn: Die Mitte besitzt gar keinen offiziellen, nationalen TikTok-Kanal und die GLP hat auf ihrem Profil trotz 210 Followern noch keinen einzigen Post veröffentlicht.

SP postete bisher «viralstes» Video

Die SVP führt eine weitere Rangliste an. Ihr folgen auf TikTok die meisten Profile. Insgesamt 20'500. Die SP befindet sich erneut auf dem zweiten Platz mit 13'700 Followern. Mit grossem Abstand folgen die Grünen (1'262 Follower) und die FDP (591 Follower).

Die Followerzahl sagt auf TikTok jedoch weniger über den Erfolg eines Kanals aus als bei anderen Plattformen. Denn: Die meisten TikTok-User konsumieren Videos über die «For You Page». Auf dieser Seite entscheidet ein Algorithmus, was der User angezeigt bekommt und was nicht. Damit landen auf dem Bildschirm zahlreiche Videos von Kanälen, die der User gar nicht abonniert hat.

Ein Indikator für den Einfluss einer Partei auf TikTok ist daher eher eine andere Zahl: jene ihres meistgesehenen Posts. Diese zeigt, ob der TikTok-Algorithmus einen Post als so wichtig eingestuft hat, dass er ihn vielen Usern auf den Bildschirm spült.

In dieser Rangliste belegt die SP den ersten Platz. Ihr bisher «viralster» TikTok-Post hat sie einem Auftritt der Nationalrätin Céline Widmer in der SRF-«Arena» zu verdanken, in der es um Migrationspolitik geht.

Im Clip wirft Widmer ihrem Kontrahenten, SVP-Nationalrat Thomas Aeschi, vor, Hass zu schüren und den Ausländerinnen und Ausländern die Schuld an allen Problemen der Bevölkerung zu geben. 430'000 Views und dazu 32'000 Likes generierte der Post bis dato.

Interessanterweise gelang es der SVP mit derselben «Arena»-Sendung, den zweiten Platz in der Rangliste zu ergattern. Sie postete Aeschi, wie er in der Sendung eine Liste von Kriminalfällen vorliest, die allesamt von Personen mit Migrationshintergrund begangen worden sein sollen. 400'000 Views und 20'000 Likes erhielt der Post bisher.

Die beiden Clips der SP und SVP haben auf TikTok inzwischen mehr Menschen erreicht als die entsprechende «Arena»-Sendung im Schweizer Fernsehen und die «Arena»-Review, die watson am Samstagmorgen publizierte, zusammen. Generell fällt auf, dass SP und SVP auf ihren TikTok-Kanälen gerne Fernsehauftritte und Parlamentsreden für TikTok-Content nutzen.

Kommunikationswissenschaftler Christian Pipal sagt dazu: «Dass eine Partei ihre Auftritte zu eigenen Zwecken nutzt, ist logisch. So funktioniert Politik.» Problematisch werde es dann, wenn die Einordnung komplett wegfalle. Etwa, wenn sich eine Person ausschliesslich über den TikTok-Kanal einer Partei informiere und mit keinerlei anderen Perspektiven auf ein Thema mehr konfrontiert werde. «Das ist aber ein Problem, das sich auf allen Social-Media-Plattformen manifestiert. Nicht nur auf TikTok.»

SVP und SP verfolgen ähnliche Strategie

Ob jetzt die SP oder die SVP auf TikTok erfolgreicher ist, ist anhand dieser Zahlen und Ranglisten schwer zu sagen. Denn wer die User sind, die sie mit ihren Posts erreichen, weiss man nicht. Denn TikTok erschwert es Wissenschaftlern wie Pipal, seine Plattform zu untersuchen. Genauso wie viele andere Social-Media-Plattformen.

Fest steht lediglich, dass die SVP und SP das «TikTok-Game verstanden» haben. Gemäss Pipal gilt nämlich:

«Je kürzer ein Video, je einfacher seine Message, je mehr Emotionen beim Publikum ausgelöst werden, desto mehr Menschen erreicht man.»

- Christian Pipal, Kommunikationswissenschaftler -

Ausserdem müsse ein Video schon in den ersten zwei, drei Sekunden überzeugen. «Sonst scrollt der User weiter.» Die SP und die SVP schafften es besonders gut, diese Art von Content zu produzieren, so Pipal.

Was er ebenfalls festhält: «Der Stil der Videos beeinflusst stark, wie gut sie performen.» Es sei wichtig, dass ein Account Inhalte poste, die sich in ihrer Form ähnelten. Das funktioniere besonders effektiv mit Personen, deren Gesichter bereits vielen Menschen bekannt seien. So erkenne der TikTok-Algorithmus ein Muster, nach dem er besser entscheiden könne, wie vielen Usern er einen Post ausspiele.

Schaut man sich die Kanäle der beiden Polparteien genauer an, fällt auf: Sie machen vieles richtig auf TikTok. Sie verbreiten kurze Videos, die einen von der ersten Sekunde an packen können, die prägnante, einprägsame und meist verkürzte Aussagen beinhalten.

Und: Beide setzen auf bekannte Gesichter. Die SVP mit Ueli Maurer, Albert Rösti, Thomas Aeschi oder Toni Brunner, die SP mit Mattea Meyer, Cédric Wermuth, Jacqueline Badran, Tamara Funiciello oder Anna Rosenwasser.

Weiblich will aber auch die SVP daherkommen. Also schickt sie regelmässig Jungpolitikerin Stephanie Gartenmann mit einem Mikrofon in der Hand los, um den SVP-Parlamentarierinnen und -Parlamentariern Suggestivfragen zu stellen.

Sowohl die TikTok-Posts der SP als auch der SVP lösen bei den Userinnen und Usern primär zwei Emotionen aus: Wut und Angst.

Diese Strategie funktioniert. Folgender Beitrag mit Gartenmann, in dem sie zusammen mit Nationalrätin Martina Bircher Stimmung gegen «Asylanten» macht, erhielt bis dato beispielsweise 30'000 Views und 2100 Likes.

Das folgende Video der SP mit Meyer, in dem sie die User im Oktober 2023 vor dem Wahlsieg der SVP warnt, holte 1500 Herzen ein und wurde bisher 30'600 Mal angeschaut.

Zwischen ihren Zusammenschnitten von Fernsehauftritten und Parlamentsreden machen die Polparteien also gerne Stimmung gegen ihre politischen Gegner. Polarisieren.

TikTok: Chinas verlängerter Arm in unsere Politik?

Hinter TikTok steht der chinesische Staat. Die USA befürchten darum, dass China TikTok missbraucht, um auf die US-Politik Einfluss zu nehmen. In Diskussion ist darum aktuell ein Gesetz, das Bytedance, das Unternehmen hinter TikTok, dazu zwingen würde, die Plattform an ein nicht-chinesisches Unternehmen zu verkaufen.

US-TikTok-Verbot rückt näher – doch Trump scheint seine Meinung geändert zu haben

In Deutschland hat jüngst ein anderer Zwischenfall eine Diskussion über ein TikTok-Verbot entfacht. Im April nahm die Polizei einen engen Mitarbeiter des AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah fest. Grund: Verdacht auf Spionage für China.

Krah erreichte bis dahin mit seinen TikTok-Videos, die er gezielt an junge Wählerinnen und Wähler richtet, regelmässig Hunderttausende Menschen. Manchmal erreichten seine Posts sogar Millionen von Views.

Spionage: «China will zeigen: Wir kriegen euch überall»

Kommunikationswissenschaftler Pipal sagt: «Ich denke nicht, dass China auf TikTok aktiv einzelne Parteien fördert. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Plattform darauf ausgerichtet ist, dass polarisierende Inhalte mehr Menschen angezeigt werden.»

In der aktuellen geopolitischen Lage würde es China begrüssen, wenn die westlichen Gesellschaften gespalten seien. Polarisierende politische TikTok-Videos, wie sie die SVP und SP verbreiten, könnten da Mittel zum Zweck sein.

Ohne TikTok-Kanal geht es trotzdem nicht

Werden Parteien, die auf TikTok präsent sind, automatisch zu Marionetten Chinas? Ist es gefährlich, wenn sie auf der chinesischen Plattform politisieren? Pipal schüttelt den Kopf. «So pauschal kann man das nicht sagen.» Dass sich immer mehr Menschen nur noch über Social Media informierten, sei ein gesellschaftliches Problem, das von keiner spezifischen Plattform abhänge.

Die logische Konsequenz davon sei, dass Politik da gemacht werden müsse, wo sie die Menschen erreiche. Also auch auf TikTok. Pipal sagt deshalb:

«Ich empfehle es keiner Partei, sich TikTok zu verschliessen oder gar den Polparteien das Feld zu überlassen.»

- Christian Pipal, Kommunikationswissenschaftler -

Für die GLP und Mitte sei es noch nicht zu spät, auf den TikTok-Zug aufzuspringen. Früher oder später müssten sie das ohnehin tun, glaubt Pipal. Sofern die Schweiz TikTok nicht verbietet, so wie dies einige Staaten bereits getan haben.

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