STEUERN STATT KOPFPRäMIEN? WAS DAFüR UND DAGEGEN SPRICHT

Der Leidensdruck durch die Krankenkassenprämien ist hoch, aber offenbar nicht hoch genug. Und Reformen im Gesundheitswesen bleiben schwierig. Was also ist zu tun?

Die Schweiz schätzt ihr hochwertiges Gesundheitswesen. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen wegen den stetig steigenden Kosten. Aber noch ist der Leidensdruck nicht hoch genug. So lässt sich der Abstimmungssonntag mit dem doppelten Nein zur Kostenbremse- und zur Prämienentlastungs-Initiative zusammenfassen.

Warnungen vor einem Leistungsabbau liessen die Volksinitiative der Mitte-Partei deutlich scheitern, obwohl im Text keine konkreten Massnahmen gefordert wurden. Und die Tamedia-Nachbefragung zeigt, dass Gutverdienende die SP-Initiative versenkt haben. Menschen mit einem Einkommen bis 7000 Franken pro Monat hätten sie angenommen.

Das reflektiert das Problem sehr genau. Angehörige des unteren bis «mittleren» Mittelstands, die keine Verbilligungen erhalten, spüren die Prämienlast immer stärker. Das gilt nicht zuletzt für junge Familien. Doch der Egoismus des persönlichen Portemonnaies, sprich die Angst vor höheren Steuern zur Finanzierung des Zehn-Prozent-Deckels, setzte sich am Ende durch.

Neue Initiativen angekündigt

Und trotzdem ist etwas in Bewegung geraten. Der Leidensdruck nimmt zu, das zeigt der Vergleich mit früheren Abstimmungen. So schnitt die Kostenbremse um einiges besser ab als die eigentlich moderate Managed-Care-Vorlage 2012. Und auch die SP konnte einen höheren Ja-Anteil verbuchen als bei den Abstimmungen über die Einheitskasse 2007 und 2014.

Nun will sie einen neuen Anlauf nehmen, auch wenn sie nun von einer «öffentlichen Krankenkasse» spricht, um den nach den diversen Niederlagen belasteten Begriff zu vermeiden. Mitte-Präsident Gerhard Pfister erwägt ebenfalls eine neue Volksinitiative, um die Kantone zu einer besseren Koordination bei der Gesundheitsversorgung zu zwingen.

«Grössere Flexibilität»

Dabei dürfte er die Spitalplanung im Visier haben. Überhaupt konnte man im Nachgang zur Abstimmung wieder zahlreiche Reformvorschläge und -forderungen hören und lesen. FDP-Präsident Thierry Burkart erwähnte im watson-Videointerview eine «grössere Flexibilität» beim Leistungskatalog oder Mehrjahresverträge bei der Krankenversicherung.

Video: watson

Für den in letzter Zeit oft gescholtenen Burkart war es ein erfreulicher Abstimmungssonntag. Die FDP ist die einzige Bundesratspartei, deren Parole bei allen vier nationalen Vorlagen befolgt wurde. Doch wer verzichtet freiwillig auf Leistungen in der Grundversicherung? Am ehesten kommt die Komplementärmedizin infrage, doch das bringt finanziell wenig.

Baume-Schneiders Appell

Die Gesundheitspolitik bleibt ein hartes Pflaster für Reformen. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider forderte alle Akteure am Sonntag «nachdrücklich» auf, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen und «konkrete, mehrheitsfähige Sparvorschläge» vorzulegen. Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte kann man darüber nur schmunzeln.

Solange besagte Akteure ihren Besitzstand eisern verteidigen und solange die politischen Kräfte aus allen Lagern ihrem Lobbydruck nachgeben, wird sich nichts ändern. Auch in den Kantonen überwiegen die Hemmungen, Spitäler zu schliessen und über die Grenzen hinweg die Zusammenarbeit zu verstärken. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Das sagen die Ökonomen

Deshalb stellt sich die Frage, ob man nicht das zunehmend absurde Kopfprämiensystem abschaffen und auf ein durch Steuergelder finanziertes Gesundheitswesen umstellen sollte, wie in anderen Ländern. watson hat diese Frage den Gesundheitsökonomen Heinz Locher und Willy Oggier gestellt – und interessante Antworten erhalten.

Kopfprämien sind der Ausdruck des Grundgedankens, dass ein sich für sein Leben verantwortlich fühlender, autonomer Mensch (David Riesman) das Krankheits- bzw. Unfallrisiko durch eine Versicherung abdeckt. Von diesem Blickwinkel her betrachtet sollte die Prämie risikogerecht sein. Andererseits kommt der OKP-Prämie als Folge des Obligatoriums Steuercharakter zu, und es ist unbestritten, dass der Steuerbetrag nach Massgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit festgelegt werden sollte. Die beiden Denkweisen werden mit der gegenwärtigen Regelung kombiniert, wobei offen ist, welche Gewichtungen vorgenommen werden sollten.

- Heinz Locher, selbstständiger Gesundheitsökonom -

Fakt ist: Heute schon ist ein bedeutender Teil des schweizerischen Gesundheitswesens steuerfinanziert. Dazu gehören etwa die stationären Spitalleistungen, die individuellen Prämienverbilligungen und die Ergänzungsleistungen, insbesondere bei Menschen in Pflegeheimen. Fakt ist auch: Es gibt keine rein steuerfinanzierten Systeme, denn auch in steuerfinanzierten Systemen bezahlen die Menschen teilweise sogar höhere Eigenanteile als in der Schweiz. Und Menschen, die es sich leisten können, flüchten oft in das parallele private Gesundheitssystem, das es in der Regel in solchen Systemen gibt. Zudem: Der Wechsel zu einem rein steuerfinanzierten System löst die Probleme bezüglich der falschen finanziellen Anreize, der Mehrfachrollen der Kantone als Planer und Spitaleigentümer und der als Folge des Föderalismus oft unter der kritischen Grösse liegenden Leistungen (und der damit verbundenen Überkapazitäten) nicht.

- Willy Oggier, selbstständiger Gesundheitsökonom -

Die skeptischen Voten zeigen, dass ein Systemwechsel nicht ohne heikle Nebenwirkungen wäre. So könnte die Politik auf die Idee kommen, am «falschen Ort» zu sparen. Ein abschreckendes Beispiel ist der National Health Service (NHS) in Grossbritannien, der sich nach 14 Jahren harter konservativer Sparpolitik in einem bedenklichen Zustand befindet.

Familien würden entlastet

Selbst im oft als positives Beispiel gerühmten Dänemark wird über Wartezeiten geklagt. In der Schweiz allerdings ist die direkte Demokratie ein starker Hebel, um allzu forsche Massnahmen zu bremsen. Wobei Zielkonflikte unausweichlich wären. Wäre das Stimmvolk bereit, höhere Steuern für den Erhalt von Spitälern in Kauf zu nehmen?

Steuern statt Kopfprämien: Es ist Zeit für einen Systemwechsel

Unbestreitbar ist, dass Patientinnen und Patienten durch einen Selbstbehalt ebenfalls in die Pflicht genommen werden sollten. Doch gerade Familien könnten in der Gesamtabrechnung spürbar entlastet werden. Sie bezahlen der Krankenkasse oft 1000 Franken und mehr pro Monat, während die steuerliche Belastung dank Abzügen deutlich tiefer ausfällt.

Illusionen darf man sich keine machen. Für einen Wechsel zu einem rein steuerfinanzierten System sind die Voraussetzungen nicht gegeben. Keine nennenswerte politische Kraft ist bereit, sich für eine solche «Revolution» einzusetzen. Die Krankenkassen werden ihre Abschaffung nicht einfach hinnehmen, und auch sonst sind Widerstände programmiert.

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