DIE PENSIONSKASSEN-REFORM «üBERFORDERT» SELBST DIE FACHWELT

Die Schweiz stimmt im September über die Pensionskassen-Reform ab. Für Experten hat die komplexe Vorlage einige Vor-, aber auch erhebliche Nachteile. Sie hadern mit der Politik.

Die berufliche Vorsorge (BVG) geht uns alle an. Sie ist die zweite Säule der Altersrente. So richtig damit beschäftigen aber wollen sich viele nicht. Denn im Gegensatz zu ersten Säule, der AHV, handelt es sich um eine komplexe Materie. Es gibt mehr als 1400 Pensionskassen, und die Unterschiede zwischen ihnen sind teilweise beträchtlich.

Entsprechend gross sind die Wissenslücken bei der beruflichen Vorsorge, wie eine Studie des Instituts Sotomo zeigt. So ist einer Mehrheit nicht bewusst, dass das Pensionskassenkapital zu ihrem Vermögen gehört, weil die monatlichen Beiträge, die sogenannten Altersgutschriften, wie bei der AHV direkt vom Lohn abgezogen werden.

Viele wissen auch nicht über den Umwandlungssatz Bescheid, obwohl er bestimmt, wie viel vom angesparten Kapital jährlich als Rente ausbezahlt wird. Und 62 Prozent glauben, dass vorwiegend gut verdienende Personen im überobligatorischen Bereich versichert sind. In Wirklichkeit liegt das Kapital bei 85 Prozent der Versicherten im Überobligatorium.

Viel «Fachchinesisch»

Das Obligatorium betrifft Jahreseinkommen bis 88’200 Franken. Oberflächlich betrachtet ist das viel, doch selbst Geringverdienende haben häufig überobligatorisches Kapital, weil die Arbeitgeber freiwillig den gesamten Lohn versichern, ohne den sogenannten Koordinationsabzug (entspricht der AHV-Maximalrente), oder mehr einzahlen als das gesetzliche Minimum.

Umwandlungssatz, Koordinationsabzug, Überobligatorium – allein dieses «Fachchinesisch» verdeutlicht, warum viele mit der zweiten Säule überfordert sind. Nun aber kommt am 22. September eine BVG-Revision zur Abstimmung, weil SP und Gewerkschaften das Referendum ergriffen haben. Die letzte «erfolgreiche» Reform liegt 20 Jahre zurück.

Zwei gescheiterte Anläufe

Seither sind zwei Anläufe gescheitert. 2010 wurde eine «Abbau-Vorlage» mit mehr als 70 Prozent Nein abgeschmettert, und 2017 scheiterte die Altersvorsorge 2020, die AHV und BVG gleichzeitig reformieren wollte, am Widerstand von SVP, FDP und Wirtschaftsverbänden. Bei der aktuellen Vorlage kommt die Opposition erneut von links.

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Die Gegner wollen an die erfolgreiche «Rentenklau»-Kampagne von 2010 anknüpfen. Denn das «Kernstück» der Vorlage ist die Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent. Damit soll die höhere Lebenserwartung ausgeglichen werden. Allerdings sind Pensionskassen mit überobligatorischem Kapital nicht an diese Vorgabe gebunden.

Die «Hausaufgaben» gemacht

Sie haben den Satz von sich aus angepasst und damit die Reform faktisch umgesetzt. Der reale Umwandlungssatz liegt teilweise bei unter 5 Prozent. Und selbst Pensionskassen aus Tieflohnbranchen, die oft nur das Obligatorium abdecken, haben laut dem «Tages-Anzeiger» ihre «Hausaufgaben» gemacht. Sie seien dank hohen Rückstellungen solide finanziert.

Für die Gewerkschaften ist dies ein Beleg, dass es die Reform nicht braucht. Und selbst die Fachwelt ist sich alles andere als einig. Das zeigte sich letzte Woche an einem Webinar mit Emmanuel Vauclair, einem ausgewiesenen Kenner der vielschichtigen Materie. Er trägt gleich mehrere Hüte: So ist er im Hauptberuf Geschäftsführer der SRG-Pensionskasse.

Lieber diese Reform als keine?

Daneben sitzt er im Vorstand des Kassenverbands ASIP sowie der Schweizerischen Kammer der Pensionskassen-Experten (SKPE). Und damit beginnt das Problem: Beide stellen sich gegensätzlich zur Reformvorlage: Der ASIP unterstützt sie nach dem Motto «lieber diese Reform als gar keine», für die SKPE aber ist sie zu fehlerhaft.

Ausserdem ist Vauclair ein Schweizer Bürger, der am 22. September abstimmen muss. Als solcher sei er «immer noch unentschlossen», sagte der Neuenburger. Er verstehe die Argumente beider Lager relativ gut. Bei einem Nein werde wohl für mindestens zehn Jahre nichts gehen. Gleichzeitig hätten viele Kassen die nötigen Anpassungen vorgenommen.

«Viele Halbwahrheiten»

Im Webinar wurde deutlich, dass Emmanuel Vauclair der kritischen Seite zuneigt. So haderte er damit, dass die Politik die Vorlage mehr oder weniger an sich gerissen und zu wenig auf die Fachwelt gehört habe. In der zuständigen Parlamentskommission habe er als Vertreter der Expertenkammer sieben Minuten erhalten, um seinen Standpunkt darzulegen.

Im politischen Diskurs würden «viele Halbwahrheiten» verbreitet, meinte Vauclair. Das betrifft unter anderem die linke Nein-Kampagne. So behauptete der Gewerkschaftsbund auf seiner Website: «Das Parlament hat beschlossen, dass wir alle weniger Pensionskassen-Renten bekommen und dafür auch noch höhere Beiträge zahlen sollen.»

Umstrittene Kompensation

Das ist nur schon deshalb grundfalsch, weil die heutigen Rentnerinnen und Rentner eine Besitzstandswahrung geniessen. Ihnen kann nichts gekürzt werden. Inzwischen wurde das Wörtchen «alle» gestrichen, doch der Satz bleibt fragwürdig. Denn als Ausgleich für den tieferen Umwandlungssatz sollen 15 Übergangsjahrgänge eine Kompensation erhalten.

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Nicht alle Betroffenen profitieren gleich stark, und einige gar nicht. Für Emmanuel Vauclair aber handelt es sich um eine Massnahme mit der Giesskanne, die wegführe vom sogenannten Anrechnungsprinzip: «Es handelt sich um ein rein politisches Kalkül, das mit Bodenständigkeit nichts zu tun hat.» Es koste die Kassen elf Milliarden Franken.

Mehr Rente für Geringverdiener

Problematisch ist für den Experten ein weiterer Reformaspekt, den selbst Linke begrüssen: Die Eintrittsschwelle von heute 22’050 Franken und der Koordinationsabzug sollen gesenkt werden, damit auch Geringverdienende, häufig Frauen mit Teilzeitpensum, eine «anständige» Rente aufbauen können. Der Dachverband Alliance F befürwortet deshalb die Reform.

Aus Bürgersicht betreffe dies genau die Branchen, die es nötig hätten, sagte Vauclair. Er warnte jedoch vor einer «riesigen Verteuerung im Tieflohnbereich». Denn im Prinzip läuft es darauf hinaus, dass die Betroffenen einen grösseren Teil ihres geringen Salärs an die Pensionskasse abliefern müssen. Es sei denn, man erhöht Löhne, Preise oder beides.

Die Gegner sind im Vorteil

«Ist die Gesellschaft bereit, diesen Preis zu bezahlen?», fragte sich Vauclair. Einige Verbände aus Tieflohnbranchen wie Gastrosuisse oder Bäcker und Confiseure gehen nicht davon aus. Sie fürchten den Mehraufwand und haben die Nein-Parole beschlossen. Damit weichen sie ab vom Ja des Gewerbeverbands. Stimmfreigabe gibt es vom Bauernverband.

Es bleibt ein zwiespältiges Bild, das angesichts der Problematik nicht überrascht. Wenn jedoch die Meinungen selbst in der Pensionskassenwelt stark divergieren, nützt dies nur dem Nein-Lager, das wegen der Komplexität der Materie ohnehin im Vorteil ist. Die Befürworter der BVG-Reform haben bis September eine Menge Arbeit vor sich.

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