Die USA ziehen einen Handelsstreit aus der Trump-Ära mit der Schweiz in die nächste Runde. Worum geht es dabei? Der Experte Olaf Wientzek ordnet ein.
Washington legt gegen vier Urteile der Welthandelsorganisation (WTO) Berufung ein – unter anderem gegen jenes, das Trumps Strafzölle auf Stahlimporte aus der Schweiz, China und anderen Ländern als protektionistisch verurteilte. Laut dem Seco läuft das «ins Leere». Was wollen die USA dann mit dem Rekurs?
So vermeiden die USA mögliche Strafen. Aktuell gibt es gar keine funktionsfähige Instanz, die darüber urteilen könnte. Mit der Berufung gegen die Urteile befinden sich die Streitfälle nun in einer Art Niemandsland.
Schwächen die USA mit dieser Blockadetaktik nicht auch unter Präsident Biden eine eigentlich anerkannte multilaterale Organisation?
Ja, die USA wollen so fundamentale Änderungen innerhalb der WTO vorantreiben. Es gibt mehrere Bereiche, in denen die USA einen Reformbedarf sehen – nicht nur den Bereich der Streitschlichtung. Und da ist die Blockade der Berufungsinstanz ein wichtiger Hebel.
Wo bestehen aus Sicht der USA Probleme mit der WTO?
Zum einen bei einer sehr wichtigen Säule der WTO, der Streitschlichtung: Die WTO hat ein zweigliedriges Streitschlichtungssystem. In erster Instanz entscheidet ein Panel der Mitglieder. Aber es gab auch von Anfang an den Appellate Body, eine Art Berufungsinstanz. Mit dieser Berufungsinstanz waren die USA, aber auch andere Länder nicht immer glücklich. Die Kritik ist einerseits, dass der Entscheidungsprozess zu langwierig war, zum anderen aber vor allem, dass das normalerweise siebenköpfige Gremium sein Mandat zu weit auslegt und wie etwa der Europäische Gerichtshof eine Art Rechtsprechung etablieren möchte. Seit etwa 2016 haben die USA darum die Berufung neuer Mitglieder blockiert.
Weil sie selbst zu oft verloren haben?
Eigentlich haben die USA ziemlich häufig recht erhalten, aber in einigen für Washington sehr wichtigen Fällen hat die WTO gegen die USA geurteilt.
Welche Rolle hat die Trump-Regierung beim Streit um die WTO gespielt?
Unter Trump hat sich der Streit um die WTO verschärft. 2019 befand sich dann nur noch ein Mitglied im Appellate Body. Die Berufungsinstanz ist damit seitdem nicht mehr funktionsfähig, es müssten mindestens drei sein.
Was bedeutet das?
Wenn sich ein Land jetzt in einem Streitfall befindet und eine handelsbeschränkende Massnahme vom Streitschlichtungspanel als Verstoss gegen ein von der WTO verwaltetes Handelsabkommen gewertet wird – wie im Fall der Strafzölle auf Stahlimporte –, dann kann ein anderer Staat das blockieren, indem er in den Rekurs geht. Er beruft jetzt allerdings quasi ins «Nichts» hinein, weil die Berufungsinstanz nicht besetzt ist. Die ganze Streitschlichtung hat damit eine grosse Lücke, weil alle Beteiligten erst mal zusagen müssten, nicht in die zweite Instanz zu gehen.
Die Entscheidung, gegen den Panelbericht Berufung einzulegen, stösst in der Schweiz auf Unverständnis. «Diese Berufung läuft in der Tat ‹ins Leere›, da das Berufungsgremium aufgrund der seit mehreren Jahren von den USA blockierten Ernennung seiner Mitglieder nicht mehr funktionsfähig ist», teilt ein Sprecher des Seco auf Anfrage der «Handelszeitung» mit. «Diese Situation verdeutlicht, wie wichtig es ist, ein voll funktionsfähiges Streitbeilegungssystem wiederherzustellen.» Die Schweiz werde sich in der WTO weiterhin für dieses Ziel sowie die Aufhebung der Strafzölle einsetzen und zu diesem Zweck weiterhin den Dialog mit den USA suchen.
Ist die WTO damit überhaupt noch funktionsfähig?
Die WTO macht ja nicht nur Streitschlichtung. Aber einer ihrer wichtigsten Pfeiler ist durch die Blockade schwer beschädigt. Daher gibt es eine grosse Gruppe von rund fünfzig WTO-Mitgliedern, die sich für eine Interimslösung entschieden haben, dazu gehört auch die Schweiz. Sie haben eine sogenannte vorläufige multipartite Vereinbarung. Die USA sind dort allerdings nicht dabei und es ist kein vollwertiger Ersatz für den Appellate Body. Aber es sind immerhin genug Länder drin, damit zumindest nicht alles direkt in einem Handelsstreit eskaliert. Denn dass diese Streitschlichtung überhaupt möglich ist und als verbindlich gilt, war ja eine der grossen Errungenschaften der WTO.
Die fehlende Verbindlichkeit ist bei vielen internationalen Organisationen ein Problem, allen voran bei den Vereinten Nationen.
Genau. Deswegen galt die WTO als eine sehr starke multilaterale Organisation.
Warum schwächt die Biden-Regierung dann ausgerechnet diese Institution – passen ihr die Urteile schlicht nicht?
Zum einen wegen der Verbindlichkeit. Washington hat ein paarmal nicht Recht bekommen und findet es schwierig, sich in Handlungsfragen rechtlich zu binden, weil das die eigene Politik stark einschränkt. Zum anderen muss man sehen, wann die WTO gegründet wurde: Das war in den 1990er Jahren, quasi in den Hochzeiten des Multilateralismus. Aber die USA hatten schon unter der Obama-Administration Probleme mit der Streitschlichtung.
Jetzt hingegen gibts einen regelrechten Subventionswettlauf, wie wir an der Debatte um den Inflation Reduction Act sehen. Ist Protektionismus einfach wieder zu sehr en vogue?
Die Tendenz zum Protektionismus ist auf jeden Fall so stark, dass es zwar nicht unmöglich, aber doch sehr schwierig ist, sich in der WTO auf gemeinsame multilaterale Lösungen zu einigen.
Welche Rolle spielt der Systemwettbewerb mit China beim Streit um die WTO?
Die USA kritisieren, dass die WTO keine angemessenen Regeln für den Umgang mit Ländern hat, die keine freien Marktwirtschaften sind, sondern die eher ein staatskapitalistisches System haben. China mit seinen starken Staatssubventionen spielt natürlich auf einem ganz anderen Level. Und deklariert sich zum Ärger der USA und einiger anderer Länder immer noch als Entwicklungsland, was einige Erleichterungen bringt.
Ist die Zeit der WTO angesichts dieser grossen Differenzen dann nicht vielleicht auch einfach vorbei?
Nein. Zum einen hat die WTO auch eine wichtige Rolle jenseits der Streitschlichtung. Aber ich finde es gerade jetzt wichtig, dass es eine verbindliche Streitschlichtung gibt. Sonst werden wir nur eine weitere Eskalation von Handelsstreitigkeiten und Abschottung erleben.
Maria Pagán, die US-Botschafterin bei der WTO, will bis zur nächsten Ministerkonferenz 2024 ein «voll funktionsfähiges System». Wie soll das aussehen?
Das ist unklar. Die USA wollen ein schlankeres System mit einem engen Mandat. Und ich bin mir nicht sicher, ob die USA ein WTO-Streitschlichtungssystem akzeptieren, das verbindlich ist. Und ganz ehrlich: 2024 ist sportlich, dafür sind die Differenzen über die Rolle der Streitschlichtung recht gross. Gleichzeitig kann mit dieser Interimslösung nicht ewig weitergemacht werden. Viele Streitigkeiten, die auch die USA betreffen, sind durch die Interimslösung eben nicht abgedeckt.
Der Politologe Olaf Wientzek leitet das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Genf. Er konzentriert sich auf Entwicklungen in den in Genf ansässigen multilateralen Organisationen, insbesondere auf Handel, Menschenrechte sowie globale Gesundheit. Zuvor arbeitete er als Koordinator für Europaangelegenheiten der KAS in Berlin sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europabüro der KAS in Brüssel. Wientzek hat einen Master in European Affairs, ein deutsch-französisches Doppeldiplom in Politikwissenschaft und einen Doktortitel der Universität Hildesheim.
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