«WISSEN, WER MAN IST»

Cyrille Vigneron, CEO und Präsident von Cartier, über Identität, Krisen und Liebe in Zeiten der Gen Z.

Cyrille Vigneron, CEO und Präsident von Cartier, gehört fraglos zu den erfolgreichsten Managern in der Welt des Luxus. 2016 übernahm er die Uhren- und Schmuckmarke in angeschlagenem Zustand – und machte sie wieder fit. Er tat es nicht mit grossen Gesten, sondern mit klaren Vorstellungen, wie der 62-Jährige im Verlauf des Gesprächs im Cartier-Quartier in Meyrin erzählt – stets lächelnd und doch sehr ernsthaft.

Herr Vigneron, in der Lobby lief «When I Was Your Man» von Bruno Mars, ein Song voll Bedauern, vieles nicht gemacht zu haben, als noch Zeit dafür gewesen wäre. Was bedauern Sie?

Nichts. Und es gibt auch nichts, von dem ich sagen würde, wenn ich es nochmals machen könnte, würde ich es anders machen. Ich bin der, der ich bin, wegen der Herausforderungen, die ich zu meistern hatte, und den Lehren, die ich daraus gezogen habe.

Richemont hat einige Veränderungen angekündigt, unter anderem, dass Sie nun nach Ihrem Nachfolger suchen. Stimmt das?

Ja.

Dann scheiden Sie schon bald aus?

Nur weil wir uns um meine Nachfolge kümmern? Das ist doch ein Task, bei dem es gescheit ist, sich zu engagieren, bevor es zu spät ist.

Wie gehen Sie es an?

Die Frage ist gut, aber dazu sagen kann ich nichts.

Der loyale Transformer

Der Franzose Cyrille Vigneron (62) ist CEO und Präsident von Cartier, der mit Abstand wichtigsten Marke im Richemont-Konzern. Gemäss  Morgan Stanley hat Cartier 2023 rund 10 Milliarden Franken umgesetzt, ist bei den Uhren mit 3,1 Milliarden Umsatz hinter Rolex die zweitstärkste Marke – und beim Schmuck weltweit die Nummer 1. Vigneron ist seit 1988 bei Richemont unter Vertrag und war konzerntreu – bis auf einen Abstecher zum Rivalen LVMH von 2014 bis 2016. Vigneron ist verheiratet und Vater vier erwachsener Kinder.

Cartier ist die grösste Uhren- und Schmuckmarke der Welt. Wie gross ist der Spagat zwischen den beiden Produktkategorien?

Es gibt keinen Spagat, aber einen roten Faden. Erstens: Bei allem, was wir herstellen, geht es zuerst um Schönheit, alles andere kommt danach, muss ihr dienen. Zweitens sind Schmuck wie Uhren Hardware, es braucht Know-how, um sie herzustellen, und wenn man es richtig macht, sind beide zeitlos. Wir haben Cartier-Uhren, die 50 Jahre alt und nicht einmal mechanisch sind, die auf Auktionen hohe Preise erzielen.

Wie stellt man Zeitlosigkeit sicher?

Wenn man sich mit einer Marke wie Cartier beschäftigt, braucht es Bescheidenheit. Man dient ihr ja nur für eine gewisse Zeit. Jemand tat es vor einem, jemand wird es nach einem tun.

Das heisst, Sie zügeln Ihr Ego?

Ich führe die Marke Cartier mit Respekt. Es gibt ein prächtiges Erbe. Bestseller wie das «Love»-Bracelet oder «Just un Clou» wurden vor 60 Jahren eingeführt. Wir haben sie lediglich in neuer Frische zurückgebracht.

Sind Sie eigentlich bei jeder Neuheit, die Sie herausbringen, sicher?

Fast.

Und Sie persönlich entscheiden, was kommt und was nicht?

Es ist eine kollektive Entscheidung. Und wir haben einen Produktausschuss, der sicherstellt, dass wir nicht in das Gebiet eines anderen eindringen. Sind Ideen im Raum, fragen wir uns, ob sie repräsentativ sind für Cartier. Wir machen nur, was definitiv und unnachahmlich Cartier ist.

Was wäre sonst?

Der Geist von Cartier ginge verloren. Dann laufen einem die Kunden weg. Das haben wir erlebt: Vor zehn Jahren hat Cartier bei den Uhren eine Richtung eingeschlagen, die immer unattraktiver wurde, was sich an den Preisen auf dem Zweitmarkt und an Auktionen sehr klar zeigte. Wir mussten Uhren auf den Boden zurückholen. Das ist gelungen.

Wie haben Sie das hinbekommen?

Wir haben damals die Neuheiten der vergangenen Jahre angeschaut und sind zum Schluss gekommen, dass kaum etwas darunter war, das schöner war als das, was davor schon existiert hatte.

Sie bringen ja nach wie vor Neuheiten heraus. Wie entscheiden Sie, ob diese «Cartier» sind? Intellekt, Gefühl?

Es ist beides. Ich entscheide ja nicht allein, wir sind ein Team, und wenn jemand von uns auf ein Design wirklich eine andere Sichtweise als die anderen hat, schauen wir das an, diskutieren – und sehr oft kommen wir zu einem Konsens.

Sie sprechen keine Machtworte?

Wir debattieren. Können wir uns nicht einigen, heisst das höchstwahrscheinlich, dass es nicht richtig ist, also lassen wir es.

Orientieren Sie sich auch an Trends?

Selbstverständlich blicken wir auf die Märkte und fragen, welche Produkte Cartier haben müsste. Wenn wir dann die Designs dazu vorliegen haben, steht aber oft die Frage im Raum, ob wir das tatsächlich brauchen.

Aktuell scheint Männerschmuck ein Trend zu sein. Was tun Sie?

Es war eine interessante Diskussion, die wir vor sechs Jahren mit dem Marketing führten. Wir sagten: Wir müssen Schmuck für Männer entwerfen. Und erhielten die Antwort: Cartier-Schmuck enthält Männlichkeit wie Weiblichkeit, ist also von Männern und Frauen gleichermassen tragbar. Zudem: Männer wollen gar keinen Männerschmuck. Immer mehr Männer möchten auch Broschen und andere Schmuckstücke tragen. Für uns heisst das, dass wir einfach viel offener sein müssen. Wir arbeiten inzwischen ja auch mit männlichen Models, um Männer zu ermutigen. Das entwickelt sich nun ganz gut.

Ist die Cartier-Kundschaft mehrheitlich weiblich oder männlich?

Das Verhältnis bei den Verkäufen ist etwa 60:40, beim Tragen ist der Frauenanteil noch etwas höher.

Schwarz oder Weiss, Herr Vigneron?

★ Schwarz oder Weiss? Ich mag Schwarz, und ich mag Weiss, aber auch alle Schattierungen dazwischen. Wussten Sie, dass es 50'000 Grüntöne gibt?

Paris oder London? Kann ich nicht sagen, ich mag beide Städte sehr.

Berge oder Meer? Meer, ich bin in La Rochelle am Atlantik geboren.

★ «Vogue» oder «Le Figaro»? «Le Figaro».

Echte oder im Labor gezüchtete Diamanten? Die echten, keine Frage.

Tradition oder Innovation? Das eine braucht das andere, und das andere ist sehr wirkungsvoll mit dem einen.

Sushi oder Spaghetti? Beides. Aber nicht zur gleichen Zeit.

Japan oder Frankreich? Im Sommer Frankreich, im Winter Japan.

Japanische oder französische Küche? Die beiden sind die besten der Welt. Aber ich mag auch die italienische und die chinesische. Es kommt darauf an, wann, mit wem, wo und warum.

Wein oder Champagner? Champagner. Ich mag die Bubbles.

Buch oder Podcast? Zeitungen und Bücher, meist mehrere parallel.

SUV oder Sportwagen? Ein Elektroauto von Mercedes, für mich kommt wegen der Luftverschmutzung in der Stadt nichts anderes in Frage.

Selbstfahrer oder Chauffeur? In meiner Freizeit fahre ich selbst, wenn ich geschäftlich unterwegs bin, lasse ich mich chauffieren und arbeite.

Aktuell heisst es überall, die Ausgaben für Luxus seien negativ. Leiden Sie?

Es ist polarisiert. Sie haben das Jahresergebnis von Richemont gesehen, das positiv ausgefallen ist. Vor allem, wenn man die Währungsschwankungen ausklammert. Organisch gesehen war das vergangene Geschäftsjahr noch besser als das Rekordjahr davor. Und die Dynamik hält an. Wir geben bekanntlich keine Prognose für das Jahr ab, aber wir sehen, dass die Wirtschaft global gesehen wächst.

Alle reden von der Gen Z, der nächsten Generation, die für die Luxusindustrie wichtig ist. Sie haben sogar ein «Gen Z Observatory» installiert. Wofür?

Zunächst einmal: Unsere Verkäufe an die Generation  Z sind bereits recht hoch. Es ging also nicht um die Frage, ob wir die junge Generation davon überzeugen können, ein Produkt zu kaufen. Der Grund, warum wir das Observatorium ins Leben gerufen haben, ist ein anderer: Es gab ständig Berater, die uns sagten, die Gen Z denkt so, die Gen Z will das, die Gen Z will das nicht. Und wenn ich dann zu Hause meine Kinder fragte, denkt ihr so?, war die Antwort oft, nein, so denken Boomer. Diese Berater waren effektiv alles Leute in meinem Alter.

Und was hat es nun mit dem Observatorium auf sich? 

Es ist unser Forschungslehrstuhl. Mit der HEC Paris und ESCP Europe wählen wir jedes Jahr eine grosse Gruppe junger Leute aus verschiedenen Ländern aus und lassen sie forschen. Wir geben drei bis fünf Themen vor mit dem Ziel, herauszufinden, ob sie, wenn es um Werte und Ziele geht, das Gleiche denken oder anders denken oder nur unterschiedliche Worte für etwas Ähnliches verwenden.

Am besten geben Sie ein Beispiel.

Die Gen Z hat ihre Sorgen und Anliegen, wie wir unsere hatten. Die Themen unterscheiden sich, aber nicht das Gefühl, das sie auslösen. Nehmen wir den neudeutschen Begriff «FOBO»: Die Gen Z denkt, sie seien die Ersten, die mit der «Fear of Becoming Obsolete», also der Angst, überflüssig zu werden oder zu sein, konfrontiert sind. Das stimmt nicht: Diese Angst begleitet die Menschen seit der Industriellen Revolution – in anderen Ausprägungen und mit anderen Namen.

Welches sind die Ausprägungen bei der Gen Z?

Die junge Generation ändert gerade das Konzept der Liebe. Die soziale Norm der Familiengründung rückt in den Hintergrund, sich zu verlieben, betrachten sie mit Distanz. Einerseits wollen sie ihre Unabhängigkeit nicht verlieren, andererseits nicht verletzt werden.

Was machen Sie als CEO von Cartier damit?

Direkt nichts. Aber wir nehmen auf, was die Gen Z bewegt. Wir gehen darauf ein, nicht mit Slogans, nicht mit dem Produkt, nicht mit dem, was wir tun, sondern wer wir sind. Der jüngeren Generation ist es nämlich sehr wichtig, für wen sie arbeiten. Früher reichte die Anziehungskraft eines grossen Namens. Jetzt wollen sie wissen, was man macht, aber auch, wer man ist und woran man glaubt. Dafür braucht es glaubwürdige Commitments zu gesellschaftlichen Anliegen wie Ökologie, Nachhaltigkeit, Kundenbeziehungen, Diversity und Inklusion. Diese Anliegen muss man leben.

Welches war das grösste Learning, seit Sie CEO von Cartier sind?

Nun, die grösste Erkenntnis kam mit Covid: Alles kann von einem Moment auf den andern aufhören. Der Gedanke, dass eine Pandemie kommen könnte, war nicht neu, doch niemand hat damit gerechnet, dass die Regierung beschliessen würde, alles für eine gewisse Zeit zu schliessen und dann wieder zu öffnen. Heute weiss ich, dass man auf völlig Unerwartetes vorbereitet sein muss.

Es war nicht die erste Krise, die Sie erlebt haben. Sie sind seit 2016 im Amt.

Zu der Zeit schrumpfte in China der Markt wegen Währungszerfall und Anti-Korruptions-Massnahmen. Es folgten soziale Unruhen in Hongkong. Dann kam die Pandemie – Schocks in kurzen Abständen. Früher war es so, dass man davon ausgehen konnte, dass es nach einem Schock zehn Jahre lang gut geht. Ich denke, das ist definitiv vorbei, und man muss sich gar nicht erst überlegen, was man tun wird, wenn sich die Situation normalisiert. Normal ist, dass es Schocks gibt. Damit muss man heute leben.

Wie sieht Ihr Wettbewerb aus?

Wir haben eine sehr starke Position bei Uhren und Schmuck, was ziemlich selten ist. Früher gab es einen starken Wettbewerb nach Produktkategorien. Nun gibt es die Tendenz, dass andere Mitspieler in der Luxusbranche in Uhren und Schmuck drängen – und sich dort auch ziemlich gut entwickeln. Schmuck entwickelt sich bei den Nicht-Schmuck-Marken am schnellsten. Und das war etwas Neues in den letzten fünf Jahren.

Das heisst, der Kampf um Kunden ist härter geworden? 

So ist es nicht. Dass immer mehr Luxusmarken, die nicht aus dem Schmuckbereich kommen, nun Schmuck herstellen, führt dazu, dass immer mehr Menschen auf Schmuck aufmerksam werden. So gesehen sind diese neuen Mitspieler eine durchaus positive Kraft. Die Zahl der Neukunden im Bereich des hochwertigen Schmucks ist nachweislich gestiegen, seit andere Marken aktiver sind.

Der Kuchen wird also grösser. Wie halten Sie die Konkurrenz auf Abstand?

Indem man seinen eigenen Weg einschlägt. Und wissen Sie, Cartier zu mögen, ist kein Widerspruch dazu, auch andere zu mögen. Ist ja auch in anderen Lebensbereichen so: An einem Tag sagen Sie: «Ich will französisches Essen», am anderen Tag gehen Sie zum Italiener, und am dritten Tag speisen Sie japanisch. Jede Kulinarik ist auf ihre Art besonders, und Sie werden das Französische nicht direkt mit dem Japanischen vergleichen.

Was heisst das jetzt konkret in Bezug auf Ihr Wettbewerbsumfeld?

Es existiert untereinander zugleich Wettbewerb, aber auch eine Partnerschaft. So gibt es in jeder grossen Stadt ein Luxusviertel oder eine Luxusmeile, die sich dadurch definiert, dass verschiedenste Edelmarken mit Boutiquen präsent sind. Wo es kein solches Umfeld gibt, funktioniert es für niemanden.

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