Konzernchef Nick Hayek und der Aktienmarkt – das passt nicht. «Wir überlegen uns, was wir tun können», sagt er.
An der Wand hinter seinem Pult hat Nick Hayek (69) ein Gemälde aufgehängt, 2 Meter 50 lang, 50 Zentimeter hoch. Es zeigt eine Herde weisser Schafe – und mittendrin ein schwarzes. Sein Angebot: «Wenn Sie erraten, wie viele weisse Schafe es sind, schenke ich Ihnen eine Swatch.»
Dass sich der CEO der Swatch Group selbst in der Rolle des schwarzen Schafes gefällt, braucht er nicht zu betonen. Wer ihn kennt, weiss auch so, dass er in dem Einzelgänger sein Alter Ego sieht. Und dass das Bild nichts anderes ist als eine Iteration der Botschaft seiner Piratenflagge an der Fassade am Hauptsitz: Ich, Nick Hayek, mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.
Seine Welt ist das Vermächtnis seines Vaters. Nicolas G. Hayek hat 1983 mit der Plastikuhr Swatch eine Revolution ausgelöst und diese 1992 mit der mechanischen Swatch weiter befeuert – und steht als Visionär und Retter der Schweizer Uhrenindustrie in den Geschichtsbüchern. Unter seiner Führung ist die Swatch Group zum grössten Uhrenkonzern der Welt aufgestiegen. Der Gruppe gehören 16 Marken – darunter Omega, Breguet, Blancpain, Tissot, Longines und Swatch, die zwischen 50 und 600'000 Franken kosten. Plus 150 Industriebetriebe, die dem Acht-Milliarden-Konzern eine einzigartige vertikale Wertschöpfung ermöglichen.
Hayek senior machte seinen Sohn 2003 zum CEO und wachte bis zu seinem Tod 2010 im Alter von 82 Jahren als allmächtiger VR-Präsident über sein Lebenswerk. Seitdem führt Nick Hayek die Firma, präsidiert von seiner Schwester Nayla – und lenkt den Koloss mit 33'500 Mitarbeitenden weltweit, als gehörte er ihm. Die anderen Aktionäre: Zuschauer. Der Hayek-Pool hält aktuell 28,5 Prozent am Kapital und 44 Prozent der Stimmen, ein neuer Höchststand und nahe an den 49 Prozent, bei denen gemäss Statuten ein Übernahmeangebot fällig wäre.
Gefechte mit der Analystenzunft haben bei der Swatch Group Tradition. Doch in diesem Jahr erleben die Spannungen mit den Börsianern durch die scharfe Talfahrt des Kurses einen Höhepunkt, der eine ebenso scharfe Kehrtwende auslösen könnte: die Dekotierung des Swatch-Konzerns.
«Sicher von Vorteil» wäre ein Rückzug von der Börse, betont Hayek im BILANZ-Interview. «Wir überlegen uns, was wir tun können.» Weg von der Börse – das hatte schon Hayek senior im Kopf, als er ein Aktienrückkaufprogramm ums andere lancierte und so den eigenen Anteil am Konzern laufend steigerte. Sein Filius blieb dran: 2019 etwa kaufte die Swatch Group für eine Milliarde Franken eigene Aktien, im Juli dieses Jahres nutzte Hayek den tiefen Kurs für weitere Zukäufe. Inzwischen ist er einem Going-private näher als je zuvor – und äussert sich sogar zu einer allfälligen Prämie für die Aktionäre: Er müsste wohl «mindestens 30 bis 40 Prozent on top» bezahlen. Wie genau die Pläne für ein Going-private aussehen, ist noch offen. Möglichkeiten gibt es einige: Von der Erhöhung des tiefen Fremdkapitals über das Einschiessen privater Gelder (aus eigener Tasche und von Investoren) bis zum Verkauf bestimmter Marken oder Firmenbereiche – wenn ein Konzern wie Swatch, in dem laut Hayek so viele «Reichtümer schlummern», Kapital braucht, findet er es auch. Dass keine dieser Massnahmen bislang zum Repertoire Hayeks zählte, zeigt die Besonderheit der aktuellen Situation.
Die Dekotierung wäre die Umsetzung einer finalen Erkenntnis: Hayek und die Börse – das passt nicht. Für die Solidität der Bilanz und das Festhalten am väterlichen Geschäftsmodell verzichtet der Uhrenchef bewusst auf Margenoptimierung – und das ist für die kurzfristig denkende Börsenzunft eine Todsünde.
Die zahlreichen Fabriken und Produktionsbetriebe etwa erachten Hayek-Kritiker zunehmend als problematisch, da sie kostenintensiv sind und die gesamte Industrie volumenmässig schrumpft, wie die neuesten Exportzahlen zeigen. Für Hayek sind sie jedoch der Lebensnerv seines Konzerns. Und eine tragende Säule der Unabhängigkeit, die im Hause Hayek sakrosankt ist – ganz besonders seit der unheimlichen Begegnung mit Microsoft-Gründer Bill Gates.
Anfang der Nullerjahre hatte Hayek mit Microsoft eine Uhr entwickelt, die via Radiofrequenzwellen in Autos Nachrichten empfangen kann. Sie hiess Paparazzi und wurde von Hayek und Gates in New York lanciert.
Wenig später verschwand Paparazzi für Hayek von der Bildfläche. Gates hatte aus Kostengründen entschieden, sich auf die USA zu beschränken - und Europa aus dem Projekt gestrichen. Nach einem Gerichtsentscheid bezahlte Gates eine Busse in zweistelliger Millionenhöhe. Und Hayek schwor der Zusammenarbeit mit anderen Konzernen ab und setzte auf Eigenproduktion – und das, ganz der Patriot, in der lohnintensiven Schweiz. So kam es, dass er für die Smartwatch Tissot T-Touch ein eigenes Betriebssystem schuf und eine Anlage für die Herstellung von Solarzifferblättern baute. Die Entwicklung der T-Touch hat 35 Millionen Franken gekostet und wird von 35 Patenten geschützt. Mit dieser Fertigungstiefe steht der Konzern einmalig da – in schwierigen Zeiten drückt sie auf die Marge.
Der Gegensatz zum Rivalen Richemont ist frappant. Der in Genf domizilierte Konzern führt Luxusmarken wie IWC, Vacheron Constantin, Cartier oder Jaeger-LeCoultre. Die Richemont-Marken kaufen die meisten Komponenten zu, einen Teil ihrer Kaliber beziehen sie vom Swatch-Konzern – und sind all in all an der Börse deutlich erfolgreicher. Wer vor 20 Jahren für 100'000 Franken Swatch-Aktien kaufte, so die Rechnung des Vontobel-Analysten Jean-Philippe Bertschy, hat heute für 200'000 Franken Swatch-Titel im Depot. Mit Richemont-Aktien wären daraus in derselben Zeit 1,2 Millionen Franken geworden.
Treu folgt Nick Hayek den väterlichen Spuren auch in Sachen Finanzierung: ultrakonservativ. Die Swatch Group ist üppig kapitalisiert, die Eigenkapitalquote steht bei 86,1 Prozent, und Hayek kann im Interview die deutlich tieferen Quoten bei Weltfirmen wie Kering oder LVMH sauber rezitieren. So braucht er weder Börse noch Banken – und lässt sich von ihnen auch nichts sagen.
Wie langfristig – und damit wenig börsenaffin – er seine Firma führt, zeigt ein Beispiel aus diesem Jahr. Täglich erhält er die Reports seiner Boutiquen von überall auf der Welt. Er weiss, wie viele Leute das Geschäft betreten haben, welche Uhr zu welchem Preis verkauft worden ist. Zu Jahresbeginn liessen andere Chefs grosser Marken wie etwa Jean-Christophe Babin von der LVMH-Marke Bulgari Vorsicht in ihre Budgetplanung einfliessen wegen der drohenden Krise in China. Doch Hayek sah im Land der Mitte nicht den drohenden Abschwung, sondern den nächsten Aufschwung. Er liess weiter produzieren, obschon die Nachfrage schwächelte. Das Lager der Swatch Group schwoll an. Ende 2023 wog es 7,3 Milliarden Franken, nach dem ersten Halbjahr 2024 waren es schon 7,7 Milliarden – auf Kosten des Betriebsgewinns. Der ist um 70 Prozent eingebrochen. Ineffizienter Mitteleinsatz in den Augen von Shareholdern, unternehmerische Weitsicht aus Hayeks Perspektive: Die Halde von heute ist die Goldgrube von morgen – jede Krise dreht irgendwann ins Gegenteil.
Die wichtigsten Geldquellen im Swatch-Portfolio sind Omega, Longines und Tissot, geführt von Raynald Aeschlimann, Matthias Breschan respektive Sylvain Dolla. Morgan Stanley schätzt, dass sie 65 Prozent des Umsatzes und 90 Prozent des Gewinns einspielen. Die beiden Luxusmarken Breguet und Blancpain laufen derweil unter Potenzial, sagen Uhrenfans, Analysten und neu auch Hayek: Per 1. Oktober gibt er Gregory Kissling, Vizepräsident Produktentwicklung von Omega, bei der hoch angesehenen Breguet die Zügel in die Hand. Bei Blancpain sitzt sein Neffe Marc Hayek weiterhin fest im Sattel. Seit diesem Jahr ist er zudem Mitglied des Swatch-Verwaltungsrats. Im siebenköpfigen Board sitzen nun drei Hayeks, ein veritables Gegengewicht gibt es nicht: Ausser dem Lindt-&-Sprüngli-Veteranen Ernst Tanner, seit bald 30 Jahren an Bord, sind der Astronaut Claude Nicollier und der einstige Nationalbank-Präsident Jean-Pierre Roth dabei, dazu seit 2016 Daniela Aeschlimann, Tochter von Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Vorbildliche Corporate Governance geht anders, in den gängigen Ratings liegt die Swatch Group auf den hinteren Rängen. Aber auch da hat Hayek eigene Filter: Seine Verwaltungsräte seien mit ihm wertkongruent. Dass sein Neffe im VR sitzt, darf als Zeichen gedeutet werden, dass er dereinst die Nachfolge von Nick Hayek antreten soll – auf dass der Konzern in der Familie bleibt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Dass Edelmarken wie Blancpain und Breguet nicht boomen, erklärt der CEO einer Luxusuhrenmarke so: «Es reicht nicht, eine Marke zu besitzen, man muss sie lieben.» Darin sieht er die grosse Stärke von Branchenleadern wie Patek Philippe, Audemars Piguet oder Richard Mille: Alle Mitarbeitenden denken, arbeiten und geben alles für eine einzige Marke. Hayek besitzt 16.
Sein Liebling ist die Swatch. Für die Billiguhr hat er Anfang der neunziger Jahre sein Leben als Filmemacher aufgegeben. 2022 hat er mit der MoonSwatch, einer internen Kollaboration zwischen Omega und Swatch, ein Erfolgsmodell aus Biokeramik für 250 Franken lanciert und millionenfach verkauft. Margenmässig hinkt die MoonSwatch anderen Marken des Hauses hinterher, gemäss Hayek ist sie aber profitabel auf allen Levels. Dass die MoonSwatch gut für Swatch gewesen sei, aber nicht für Omega – auch das ein oft gehörter Einwand –, verneint er: Omega habe im ersten Halbjahr 2023 das beste Ergebnis der Geschichte erzielt und dieses Jahr das beste Ergebnis in den USA.
Mit der MoonSwatch hat er fraglos den Coup seines Lebens gelandet – nur zu toppen mit dem Going-private des Konzerns.
PS: Für eine Gratis-Swatch hat es an diesem Tag nicht gereicht. Eine Schätzung war zu tief, die andere zu hoch. Insgesamt finden sich auf dem Gemälde in seinem Büro 560 weisse Schafe. Und eben: ein schwarzes.
2024-09-26T10:07:30Z dg43tfdfdgfd