Die Redaktionen in der Deutschschweiz (u. a. «Berner Zeitung», «Tages-Anzeiger», «Bund») nehmen den massiven Stellenabbau nicht kampflos hin. Die Betroffenen haben mit dem «Hosentelefon-Aufstand» begonnen.
So viel ist längst offiziell: Die Sparübungen bei der börsenkotierten TX Group (nachstehend «Tagi»-Gruppe genannt) haben Auswirkungen auf die Redaktionen der verschiedenen Tageszeitungen. Rund 50 Chronistinnen und Chronisten zittern um ihre Jobs.
Als spektakulärste Sparübung wird seit Saisonbeginn in den Print-Ausgaben auf Matchberichte der Hockey-Partien der höchsten Liga verzichtet. Was vor allem die Titel im Bernbiet (mit den SCL Tigers und dem SC Bern) und im Züribiet (mit den ZSC Lions und Kloten) betrifft. Beispielsweise stand über das grandiose 7:0 der SCL Tigers gegen Rekordmeister und Spengler-Cup-Sieger Davos am nächsten Tag kein einziges Wort in der «Berner Zeitung», dem Leibblatt der Hockeyfans im Bernbiet. Ab Neujahr wird es auch keine aktuellen Matchberichte mehr über Fussballpartien geben. Aber es geht längst nicht mehr «nur» um Sport-Berichterstattung. Auch in den anderen Ressorts wird allenthalben ein Abbau befürchtet.
Die Frage ist nun: Was unternehmen die Betroffenen? Die erste Reaktion war ein an Verleger Pietro Supino, die deutsche Geschäftsführerin Jessica Peppel-Schulz, «Tagi»-Chefredaktorin Raphaela Birrer und Publizistik-General Simon Bärtschi gerichtetes Protestschreiben der National League (der höchsten Spielklasse im Eishockey). In diesem Zusammenhang wird es zu einem Gespräch mit Verantwortlichen aus der «Tagi»-Chefetage mit führenden Vertretern der National League kommen. Wer an dieser Gesprächsrunde teilnehmen wird, ist noch offen.
Aber was unternehmen die direkt betroffenen Chronistinnen und Chronisten? Ein populäres Mittel wäre natürlich ein Streik. Mit dem Resultat, dass keine gedruckte Zeitung erscheinen könnte. Nur: Noch weiss niemand, wer tatsächlich entlassen wird. Wer streikt oder sich als Anstifterin oder Anstifter einer Streikaktion enttarnt wird, riskiert in der aktuellen Situation den Job. Eine geschlossene «Streikfront» ist unter diesen Umständen nicht möglich. Also kein Streik.
Nun wird emsig an einer anderen, modernen Protestaktion gearbeitet, die sich ganz an der digitalen Ausrichtung des Unternehmens orientiert: ein «Hosentelefon-Aufstand». Die modernen Telefone, die wir in der Hand- oder eben der Hosentasche versorgen können, eignen sich auch vorzüglich für qualitativ gute Videoaufnahmen. Also sind nun die Chronistinnen und Chronisten in diesen Tagen unterwegs, um bei Prominenten aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Sport Video-Protestbotschaften aufzunehmen. In Videos von 15 bis 20 Sekunden sagen Prominente, wie sehr sie den Abbau des Print-Qualitätsjournalismus bedauern und ab und zu wird auch die Forderung erhoben, die Strategie noch einmal zu überdenken und den Abbau des Print-Angebotes und der journalistischen Personalbestände rückgängig zu machen.
Die gesammelten Statements – geplant sind zwischen 30 und 50 «Hosentelefon-Protestbotschaften» – sollen zusammengeschnitten in einem Dokument der Chefetage übergeben werden. Voraussichtlich an die gleichen Adressatinnen und Adressaten wie das Hockey-Protestschreiben.
Diese Form des Protestes ist schlau: Wer die «Hosentelefon-Aufnahmen» gemacht hat, wird für die Chefetage nicht ersichtlich sein. Niemand riskiert also bei dieser Protestaktion den Job. Es sind Prominente aus Politik, Sport, Wirtschaft und Kultur, die als Protestpersonen in den Videos auftreten.
Die Realistin und der Realist sagen: Die Wirkung des Hockey-Protestschreibens und des «Hosentelefon-Aufstandes» wird sich voraussichtlich in einem überschaubaren Rahmen halten. Eine Rücknahme der beschlossenen und verkündeten und zu einem schönen Teil bereits umgesetzten Sparmassnahmen – wie beispielsweise der Verzicht auf Eishockey-Matchberichte in den Printmedien – erwartet eigentlich niemand. Etwas boshaft dürfen wir sagen: Bei der ganzen Aktion handelt es sich wohl eher um «Revolutions-Romantik» als um eine Protestaktion, die tatsächlich etwas bewirken wird.
Aber wie es jemand aus dem Kreis der betroffenen «Tagi»-Medienschaffenden treffend sagt: «Es geht darum, dass wir ein Zeichen setzen.» Nach dem Motto der Desillusionierten: Nützt es nichts, so schadet es auch nichts.
Ein Jahr des Grauens – so viele Medienschaffende verloren 2024 in der Schweiz ihren Job
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