DIE NEUTRALITäT WIRD FüR DIE SCHWEIZ ZUM KLOTZ AM BEIN

Im Ausland wächst der Unmut über die Weigerung der Schweiz, die Weitergabe von Waffen an die Ukraine zu erlauben. Doch sie ist an das Neutralitätsrecht gebunden. Es stellt sich die Frage, ob dieser Status noch zeitgemäss ist.

Die politische Schweiz steht im Bann der Corona-Leaks. Der Ex-Kommunikationschef von Gesundheitsminister Alain Berset soll versucht haben, mit gezielten Indiskretionen an Ringier-Medien Entscheide des Bundesrats während der Coronapandemie zu beeinflussen. Am Mittwoch kam es deshalb im Bundesrat zu einer Aussprache.

Die Affäre wirft ein schlechtes Licht auf das Klima im Bundesrat. Es spricht Bände, dass Vizekanzler André Simonazzi vor den Medien von einem «wiederhergestellten» Vertrauen sprach. Richtig ist deshalb, dass die Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat nicht nur Berset, sondern den Gesamtbundesrat unter die Lupe nehmen wollen.

Schweizer Waffen für die Ukraine: So schnell geht es nicht

Sie dürften es schwer haben, etwas Konkretes ans Licht zu bringen. Es gehört zum Wesen von Indiskretionen, dass sie sich im Verborgenen abspielen. Eine Lappalie ist die Affäre aber nicht. Gerade unser Regierungssystem, in dem Minister nicht einfach entlassen werden können, ist auf eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit angewiesen.

Schweiz unter Druck

Das gilt erst recht in der heutigen Zeit, die von Konflikten und epochalen Herausforderungen wie der Klimakrise geprägt ist. Nicht selten fragt man sich als Beobachter, ob der Bundesrat ihnen gewachsen ist. Es war bedenklich, wie er sich vom Ausbruch des Ukraine-Kriegs und der Gegenreaktion des Westens mit Sanktionen überrumpeln liess.

Den anfänglichen Versuch, sich vor der Übernahme der EU-Sanktionen zu drücken, musste er schnell aufgeben. Zu gross war das Unverständnis im Ausland. Nun steht die Schweiz erneut unter Druck. Sie hat europäischen Ländern die notwendige Bewilligung für die Weitergabe von in der Schweiz gekauften Waffen und Munition an die Ukraine verweigert.

Kein Verständnis für Neutralität

Am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos äusserten Spitzenpolitiker offen Kritik an dieser Haltung. Den Verweis auf die Neutralität der Schweiz konterte etwa NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit der Charta der Vereinten Nationen. Diese waren 1945 mit dem Ziel gegründet worden, Konflikte auf friedlichem Weg zu lösen.

Es kann nicht bestritten werden: Die Neutralität der Schweiz wird im Ausland immer weniger verstanden, da kann Bundespräsident Berset lange das Gegenteil behaupten. Bei den Waffen kommt ein weiteres Hindernis hinzu: das Kriegsmaterialgesetz, das erst kürzlich revidiert wurde mit dem Ziel, Waffenlieferungen in Konfliktgebiete zu verbieten.

Blockade wegen Neutralitätsrecht

Jetzt gibt es im Parlament Bestrebungen, das Gesetz so weit zu lockern, dass zumindest die Weitergabe von Waffen an die Ukraine ermöglicht wird. Am Grundproblem, auf das verschiedene Völkerrechtler verweisen, ändert dies nichts: Das Neutralitätsrecht ist wie ein Monolith, an dem sämtliche Lockerungen des Kriegsmaterialgesetzes abzuprallen drohen.

Nach dem Haager Abkommen von 1907 sind neutrale Staaten im Falle eines Krieges verpflichtet, alle Parteien beim Export von Rüstungsgütern gleichzubehandeln. Sollte die Schweiz Lieferungen an die Ukraine erlauben, müsste sie folglich auch Russland berücksichtigen, wenn ein Staat ein entsprechendes Gesuch nach Bern schickt.

Grosses Unwohlsein

Man kann sich vorstellen, wie gross der Shitstorm in diesem Fall wäre. Weshalb es die Schweiz vorzieht, keine Seite zu beliefern, womit sie es letztlich niemandem recht machen kann. «Hand aufs Herz: Kaum jemand in der Schweiz fühlt sich derzeit wohl mit der Rolle des Neutralen», sagte der Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann den Tamedia-Zeitungen.

Die «dauernde» Neutralität ist ein Grundsatz der schweizerischen Aussenpolitik. Sie ist tief im Selbstverständnis der Bevölkerung verankert. In Umfragen wird sie von Mehrheiten in nordkoreanischem Ausmass befürwortet. Angesichts des Ukraine-Kriegs und des moralischen Drucks, auf der «richtigen» Seite zu stehen, wird sie jedoch zum Klotz am Bein.

Schatten der Vergangenheit

Als Alternative zu Waffenlieferungen propagiert Diggelmann rein zivile humanitäre Hilfe, etwa beim Wiederaufbau von Schulen und Altersheimen. Angesichts des Überlebenskampfs der Ukraine wirkt dieser Vorschlag feige und heuchlerisch. Man sollte sich vielmehr die Frage stellen, ob die strikte Neutralität der Schweiz im 21. Jahrhundert noch zeitgemäss ist.

Schon in der Vergangenheit hatte sich die Schweiz nicht immer an das Neutralitätsrecht gehalten, wie selbst Diggelmann einräumte, im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg. Waffenlieferungen an Staaten wie Saudi-Arabien oder der Export von Pilatus-Flugzeugen, die für Kampfeinsätze umgerüstet werden können, sind seit Jahren umstritten.

Initiative mit Nebenwirkung

Der Mythos, die Neutralität habe die Schweiz vor den Katastrophen der letzten 200 Jahren bewahrt, hält sich hartnäckig. Für die SVP ist sie eine «heilige Kuh». Sie hat heftig gegen die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland protestiert, angeführt von Christoph Blocher. Er ist der Spiritus Rector der kürzlich lancierten Neutralitätsinitiative.

Sie will die Neutralität in der Bundesverfassung verankern. Heute ist sie dort nur beiläufig erwähnt, was der SVP schon lange ein Dorn im Auge ist. Die Erfolgschancen der Initiative sollen allerdings selbst in den Reihen der Urheber skeptisch beurteilt werden, wie man hört. Ein Nein in der Abstimmung könnte die beabsichtigte Wirkung ins Gegenteil verkehren.

Bündnisfrei statt neutral?

Konkret könnte es als Signal interpretiert werden, die Neutralität künftig flexibler zu interpretieren. Einen möglichen Weg skizzierte der emeritierte Rechtsprofessor und frühere Baselbieter FDP-Ständerat René Rhinow in der NZZ: Die Schweiz könnte sich von der «dauernden» Neutralität verabschieden, «ohne sie grundsätzlich und definitiv aufzugeben».

Ein mögliches Vorbild ist Finnland, das eigentlich seit dem EU-Beitritt 1995 nicht mehr neutral ist und sich bis zur im letzten Jahr beantragten NATO-Mitgliedschaft für militärisch bündnisfrei erklärt hatte. Es ist eine Art «Neutralität light», bei der man sich von militärischen Allianzen fernhält, ohne durch das Neutralitätsrecht gefesselt zu werden.

Neustart für «kooperative Neutralität»

Ein solcher Weg wäre nicht risikolos, doch die Schweiz hatte sich wie erwähnt schon mit ihrem heutigen Neutralitätsverständnis immer wieder schwergetan. Eine Modernisierung würde eine «kooperative Neutralität» ermöglichen, wie sie Aussenminister Ignazio Cassis nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs postuliert hat, ohne sie ganz aufzugeben.

Die Neuerfindung der Schweizer Neutralität

Der Gesamtbundesrat allerdings hat wenig Lust auf Experimente. Nach der Beratung von Cassis’ Neutralitätsbericht im letzten Herbst bestätigte er vielmehr die bisherige Auslegung. Ob der Druck bei den Waffenlieferungen etwas daran ändert, scheint zweifelhaft. Vielleicht trägt gerade die Neutralitätsinitiative dazu bei, eine vertiefte Debatte zu ermöglichen.

Es wäre der Gipfel der Ironie, wenn Blocher und Konsorten mit ihrem Bestreben, die strikte Neutralität zu zementieren, sie erst recht zum Einsturz brächten. Die Schweiz würde es überleben. Für die Ukraine aber käme dieser Wandel ziemlich sicher zu spät.

2023-01-28T09:47:04Z dg43tfdfdgfd